Das im Tell-Buch von Lilly Stunzi
von mehreren seriösen Autoren gezeichnete Bild der Forschungs- und Wirkungsgeschichte
zu Wilhelm Tell lässt nur folgende Schlüsse zu:
- Von Wilhelm Tell finden sich bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts keinerlei Spuren in historischen
Quellen: Die historische Existenz Wilhelm Tells lässt sich nicht beweisen.
Dies ist entgegen mancherlei anderslautenden, meist recht abenteuerlichen Theorien, die im
Internet wie Unkraut aus dem Boden spriessen, klar festzuhalten.
- Umgekehrt ist die Quellenlage des Spämittelalters allgemein so dürftig, dass der
umgekehrte Schluss ebenso unseriös wäre:
Man weiss schlicht zu wenig, um wissenschaftlich gesichert zu behaupten, Wilhelm Tell
habe nicht gelebt.
- Es gibt somit nur eine ehrliche, wissenschaftlich vertretbare Antwort: Wir wissen nicht, ob
Wilhelm Tell wirklich gelebt hat, selbst wenn man sagen kann, dass die Zweifel höchst
berechtigt sind.
Die wirklich entscheidende Erkenntnis zur Geschichtlichkeit von Wilhelm Tell
hielt Denis de Rougemont 1970 fest:
"Die Anfänge der Eidgenossenschaft ohne Tell darzustellen, ist heute ein Gebot der
Redlichkeit. Doch kann man den weiteren Verlauf der Schweizer Geschichte und das
Schweizer Volk selbst nicht verstehen, ohne den Tell der Sage zu berücksichtigen.
Denn diese Sage selbst ist eine historische Tatsache geworden und hat als Wirklichkeit
die Volksseele mitgeformt. Ob Tell existiert hat, ist im Grunde belanglos.
Unbestreitbar ist folgende Tatsache: In der Schweiz, und nirgendwo anders,
wurden die vielerorts auftretenden mythischen Motive des unfehlbaren Schützen, des
befreienden Sprunges, der Ermordung des Tyrannen durch einen reinen Tor archetypusbildend.
Wohl einzigartig ist es, daß solch ein lokales Symbol rasch eine beinahe universelle
Ausstrahlungskraft gewonnen hat. Tell ist weniger der Vater der Schweizer als ihr Sohn,
weniger ihr Vorfahre als ihr gemeinsames Werk. Das macht ihn um so wirklicher."
(Denis de Rougemont, La Suisse, ou l'histoire d'un peuple heureux, Paris 1970,
deutsche Übersetzung nach: Alfred Berchtold, Wilhelm Tell im 19. und 20. Jahrhundert,
in: Stunzi, Tell, a.a.O., S. 167-253, hier S. 247f.)
Die Wahrheit über Wilhelm Tell dürften wir wohl kaum je erfahren, sofern nicht irgendwo
noch ein sensationeller Fund eine bisher unbekannte schriftliche Quelle zutage fördert. Dies und
das Wissen um den Missbrauch, der nur allzu häufig mit dem
Pochen auf nicht nachprüfbare "höhere Wahrheiten"
betrieben wird, sollte zur Vorsicht gegenüber den damit
verbundenen Appellen mahnen.
Die entscheidende Frage:
Wie ist Freiheit zu gewinnen?
Der bekannte Berner Troubadour [Liedermacher] Mani Matter
(hauptberuflich ein geachteter Jurist) wies
in seinem Lied über eine allzu "realistische" Aufführung
des Wilhelm Tell auf der Dorfbühne, die in eine Schlägerei
ausartete, auf eine andere, wohl viel wichtigere Problematik hin:
Si würde d' Freyheyt gwinne,
wenn si dewäg z'gwinne wär.
Mit anderen Worten: Die hemdsärmlige Figur des Wilhelm Tell
steht für eine Auffassung von Freiheit, die angesichts der Herausforderungen
unserer modernen Gesellschaft kaum mehr Sinn macht. Die Freiheit, die
wir heute ganz dringend brauchen, ist eben gerade nicht dadurch zu gewinnen,
dass der Einzelne sein Recht selbst mit Gewalt durchzusetzen versucht,
sondern sie kann im Gegenteil nur gewährleistet werden, wenn alle
das Gewaltmonopol des Rechtsstaates anerkennen und bereit sind,
die Freiheit des Nachbarn ebenso zu respektieren wie die eigene
und sich in die Gemeinschaft einzuordnen.
Dies garantiert letztlich mehr Freiheit für alle als das mittelalterliche Recht
des Stärkeren.
Verwendete Literatur zur Schweizer Geschichte und zu Wilhelm Tell:
- Lilly Stunzi (Herausgeberin), Tell. Werden und Wandern eines Mythos.
Bern und Stuttgart: Hallwag Verlag, 1973
- Jean-Francois Bergier, Wilhelm Tell. Realität und Mythos.
München: Paul List Verlag, 1990.
französische Originalausgabe: Guillaume Tell. Paris: Librairie Arthème Fayard, 1988
- Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz, Identität - Nation - Geschichte. 1291 - 1991,
Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 1991
- Chronik der Schweiz,
red. Christian Schütt / Bernhard Pollmann,
Dortmund: Chronik-Verlag / Zürich: Ex Libris, 1987
- Meyers Grosses Taschenlexikon,
red. Werner Digel / Gerhard Kwiatkowski,
Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus, 1987